Aus dem Leben eines Hundertjährigen
1907, als der Vorläufer unseres heutigen Jubilars unter dem Namen Männergesangverein „Einigkeit“ gegründet wurde, musste die Caputher Fähre noch mit Muskelkraft betrieben werden. Die Eisenbahnbrücke über das Gemünde war gerade gebaut worden, so dass die Eröffnung der Bahnlinie zwischen Wildpark und Beelitz in Kürze erwartet werden konnte. Das neue Schulhaus in der damaligen Pappelstraße (heute Friedrich-Ebert-Straße) existierte noch nicht. In der Caputher Kirche predigte Pfarrer Hermes, der im neuen Pfarrhaus in Baumgartenbrück wohnte und für Geltow und Caputh zuständig war. Auf dem Caputher Schloss wurden die Gutsgeschäfte immer noch von August von Thümen geführt, und an das Einsteinhaus am Waldrand war noch lange nicht zu denken.
Wenn wir die nun folgenden hundert Jahre im Zeitraffer betrachten, so wird deutlich, dass unser Jubilar vier Staatsformen durchlebt hat, ehe er in der Bundesrepublik Deutschland ankam: das Kaiserreich, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und den Sozialismus in der DDR. Allein zweiundvierzig Jahre seines Lebens entfallen auf die DDR, woraus aber nicht geschlossen werden kann, dass der Männerchor „Einigkeit“ durch sie besonders geprägt war. Im Gegenteil: Mit welcher Staatsform sich die Sangesbrüder auch auseinandersetzen mussten, demokratisches Handeln war stets ihr oberstes Leitungs- und Arbeitsprinzip.
Die Gründung der „Einigkeit“ war nicht die erste Chorgründung in der Geschichte unserer Gemeinde. In der Caputher Schulchronik wird ein August Ludwig Ferdinand Thieme genannt, Lehrer und Küster von 1849 bis 1891, der „einen Gesangverein des Ortes leitete“. Bereits ein Jahr nach dem Tode des Thieme gründeten sangesfreudige Männer aus dem Handwerkerverein einen neuen Gesangverein, die „Liedertafel“. Seit Carl Friedrich Zelter, der in Petzow am Schwielowsee gebürtige Maurermeister und Freund Goethes, im Jahre 1809 in Berlin den ersten Männergesangverein unter dem Namen „Liedertafel“ ins Leben gerufen hatte, gab es in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Nachahmungen dieser Männerchorvereinigung. So auch in Caputh.
Wir fragen uns heute, warum damals im Jahre 1907 ein zweiter Gesangverein, nämlich die „Einigkeit“, in unserem relativ kleinen Ort gegründet wurde. Wäre es nicht sinnvoller gewesen, alle sangesfreudigen Männer in nur einem Verein zusammenzufassen? Die Antwort liegt auf der Hand, wenn man sich die soziale Zusammensetzung der Chorvereine ansieht. Während sich die bürgerliche „Liedertafel“ aus Handwerksmeistern, Gewerbetreibenden und Wohlhabenden zusammensetzte, waren in der „Einigkeit“ Tagelöhner, Arbeiter und Sozialdemokraten vertreten. Und diese sozialen Gegensätze vertrugen sich nicht in einem gemeinsamen Verein. Wir würden heute sagen: Die Chemie stimmte nicht. Wie scharf die Dissonanzen zwischen beiden Vereinen waren, zeigt ein Beschluss der „Einigkeit“ aus dem Gründungsjahr: „Mitglieder des Arbeitergesangvereins dürfen keinem bürgerlichen Verein angehören“.
So kam es unter dem Vorsitz von Friedrich Kettmann zur Gründung eines Arbeitergesangvereins mit dem Namen „Einigkeit“. Einen Chorfachmann als Dirigenten konnte sich der Verein nicht leisten. Deshalb wurde der in Caputh ansässige Stadtpfeifer Otto Schwarzlose mit der Chorleitung betraut. Ein Stadtpfeifer, der musikalische Dienstleistungen der unterschiedlichsten Art erbringen musste, war damals finanziell wahrlich nicht auf Rosen gebettet. Da musste es des Öfteren vorkommen, dass bei lukrativeren Angeboten Schwarzlose die Chorprobe einfach ausfallen ließ. Das gefiel natürlich den Sangesbrüdern nicht. Und so hielten sie wiederum Ausschau nach einem preiswerten Ersatz, den sie schließlich in dem Caputher Klempner Hermann Gramm (sen.) fanden. Gramm spielte mehrere Instrumente, war aber kein ausgebildeter Chorleiter. Aus Vereinsprotokollen wissen wir, dass seine monatliche Gage 10,- Mark betrug und dass der Beitrag der Mitglieder auf 30 Pfennige festgesetzt war. Da hatte bei vierunddreißig Sängern der Vorstand ganz schön zu zirkeln, um finanziell über die Runden kommen zu können. Die Dirigentenfrage, das heißt die Gewinnung eines befähigten Chorleiters, war in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg ein zentrales Anliegen des Vereins. Die Lösung dieses Problems scheiterte letztendlich immer wieder aus finanziellen Gründen. So hatte 1910 der Verein an die Generalversammlung des Arbeitersängerbundes den Antrag gestellt, bei der Ausbildung eines Dirigenten Unterstützung zu erhalten. Doch auch dieser Antrag wurde abgelehnt. Seine wöchentlichen Proben hielt der Verein vor dem Ersten Weltkrieg im Lokal Liesche ab, dem heutigen „Müllerhof“. Folgende Gründungsmitglieder bildeten den ersten Vorstand:
Friedrich Kettmann (Vorsitzender), Paul Schwericke (Kassierer), Franz Puhlmann (Schriftführer), Reinhold Ritter (Revisor), Robert Dalchow (Revisor) und Wilhelm Müller (Bücherwart).
Die Frage, was denn unsere Altfordern damals gesungen haben, ist nicht leicht zu beantworten. Die Aufzeichnungen des Vereins geben über Liedprogramme nur spärliche Auskunft. Es lässt sich aber feststellen, dass Volkslieder, die heute den Hauptanteil des Liedgutes ausmachen, in den Liedvorträgen der damaligen Zeit kaum eine Rolle spielten. Das so genannte Tendenzlied war allgegenwärtig, ein Lied mit sozialem Hintergrund und oft kämpferischem Inhalt. Als Beispiel möge das Lied „Das heilige Feuer“ von Gustav Adolf Uthmann dienen, das hier auszugsweise zitiert wird:
„Das heilige Feuer schüren wir, Drin wollen wir schmelzen die Ketten. Drin wollen wir Raubsucht und Lug und Trug Zur ewigen Ruhe betten. Wir wollen erlösen aus Qual und Not Euch, die ihr uns lieb seid und teuer. Werft Holz in die Flamme, Dass weithin es loht. Wir schüren das heilige Feuer.“
Da muss es uns nicht wundern, dass 1910 anlässlich eines Silvesterballes zum Zeitpunkt des Jahreswechsels die „Internationale“ angestimmt wurde. Dieser Vorgang, der heute undenkbar wäre, zeigt in aller Deutlichkeit die ideologische Bindung der Vereinsmitglieder an sozialdemokratische Werte.
Neben diesen Tendenzliedern waren damals auch Gesänge beliebt, die eine natur- und heimatverbundene Idylle zum Gegenstand hatten, wie das Lied „Fahr wohl, du schöner Maientraum“ von Heinrich Pfeil, das auf einem Programm des Chores aus dem Jahre 1910 zum ersten Male zu finden ist:
„Trau nicht den Frühlingstagen, Der lichten Sonnenpracht; Es schwinden alle Träume Dahin in einer Nacht. Der Frühling geht zu Rüste So schnell, du merkst es kaum! Fahr wohl, du Lenzesmorgen, Du schöner Maientraum!“
In den Jahren 1913 und 1914 ging die Mitgliederzahl des Vereins stark zurück. Die Versammlungsprotokolle benennen die „ungünstige wirtschaftliche Lage“ als Hauptgrund für die Mitgliederkrise. Die damit verbundene Unsicherheit, dazu die ungelöste Dirigentenfrage und schließlich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 führten dazu, dass das Vereinsleben erlosch. Leider besitzen wir keine Aufzeichnungen darüber, welche und wie viele Sangesbrüder in diesem Krieg ihr Leben lassen mussten. Die Zahl der Gefallenen muss beträchtlich gewesen sein, denn an einen Neuanfang aus eigener Kraft war nach dem Kriegsende nicht zu denken.
Aber da war noch die „Liedertafel“, der zweite Männerchor, dem es nach der langen Zwangspause nicht anders als der „Einigkeit“ erging. Sollte es nicht möglich sein, aus den beiden dezimierten Männerchören einen neuen zu formen, der das Überleben für jeden Teilchor sicherstellte? Es war erfreulich, dass 1920 der gesunde Menschenverstand über die ideologischen Vorbehalte obsiegte und beide Vereine zur „Liedertafel-Einigkeit“ verschmolzen. „Liedertafel-Einigkeit“ – ein wohlklingender programmatischer Name, der das Einigende im Vereinsnamen hervorhob. Aber die „Liedertafel-Einigkeit“ hielt nicht das, was sie versprach. Bereits 1923 war es mit der Gemeinsamkeit vorbei. Auf Betreiben der Vereinsmitglieder der „Einigkeit“ wurde die Verbindung wieder gelöst. „Die reell denkenden Proletarier“, wie es der damalige Schriftführer ausdrückte, „wünschten sich den alten Verein „Einigkeit“ zurück“. Die aus sozialen Unterschieden geborenen Meinungsverschiedenheiten trugen schließlich den Sieg über das gemeinsame Singen davon. Das war sicher ein Rückschlag für den Männerchorgesang in unserer Gemeinde.
So kam es im Mai 1923 zur Neugründungsversammlung des Gesangvereins „Einigkeit“, dessen Vorsitzender wieder Friedrich Kettmann geworden war. Zum Dirigenten wurde Schneidermeister Ernst Dalchow bestellt. Geprobt wurde von nun an im Lokal von Berthold Hoffmann (heute Friedrich-Ebert-Straße / Ecke Bergstraße). Der monatliche Beitrag von jedem der nunmehr dreiunddreißig Sangesbrüder betrug 400,- Mark. Die Inflation war fast auf ihrem Höhepunkt. Eine Umlage musste erhoben werden, falls der Mitgliedsbeitrag nicht mehr ausreichte, um die Kosten zu decken.
1927 lehnte die „Einigkeit“ die Einladung der „Liedertafel“ ab, an der Weihe ihres Vereinsbanners teilzunehmen. Dieses Ereignis fand am 15.Mai aus Anlass des fünfunddreißigjährigen Bestehens der „Liedertafel“ statt. Fünfzehn Gesangvereine wurden als Gäste begrüßt und nahmen den Gesangswettstreit auf. Doch unser Jubilar konnte sich aus den bekannten Gründen zu keinem Teilnahmebeschluss durchringen.
Da die Vereinigung mit der „Liedertafel“ fehlgeschlagen war, musste nach einem anderen Mittel gegriffen werden, um die Schmerzen zu lindern, die der Krieg den Chorvereinen zugefügt hatte. In dieser Situation kam es den Caputher Männerchören zupass, dass von den Sängerbünden die Parole ausgegeben wurde, Frauen- und gemischte Chöre zu bilden. Auf diese Weise sollte auch das Defizit an männlichen Sängern wettgemacht werden. 1925 unterstützte daher der Chor „Einigkeit“ die Gründung eines Frauenchores, der sich den programmatischen Namen „Blüh´ auf“ gab und aus sechzehn Damen bestand. Frau Elise Kühne und Frau Elisabeth Meier waren die Vorsitzenden. Man konnte nun in drei Chorgattungen singen und auftreten, als Frauenchor, als Männerchor und als gemischter Chor.
Es ist für uns heute nicht nachvollziehbar, weshalb in dieser Situation der Männerchor „Einigkeit“ eine Flaute durchlebte. Jedenfalls waren die Chorproben schlecht besucht, während gleichzeitig der Frauenchor – wie sein Name sagte – aufzublühen begann und ein besseres Fortkommen hatte. Da reifte bei den Männern allmählich der Gedanke, sich mit den Frauen zu einem gemischten Chorverein zusammenzuschließen. Auf diese Weise entstand der gemischte „Volkschor Einigkeit Caputh“, der zum ersten Male am 1.Mai 1927 auftrat.
Den neuen gemischten Chor bildeten sechsundsiebzig Frauen und Männer. Man sang drei Proben gemischt und eine im Monat als Männerchor. Dirigent war immer noch Ernst Dalchow, ein Chorleiter, über den wir wenig wissen.
Aus den Chorunterlagen ist zu entnehmen, dass Dalchow kein ungetrübtes Verhältnis zu seinen Sängerinnen und Sängern hatte. Das betraf insbesondere die Liedauswahl, das Anforderungsniveau und die Chordisziplin. Die Folge davon war, dass der Mitgliederbestand ständig schrumpfte und der Chor kaum noch auftreten konnte. Die Situation eskalierte auf einer Chorversammlung im Jahre 1929: Der Chorleiter wurde mit der Begründung, kein Vereinsmitglied zu sein, aus dem Saal gewiesen und anschließend abgewählt. Der Vorstand erhielt von den Sängern den Auftrag, einen neuen Chorleiter zu suchen. Somit hatte der Verein bereits seinen dritten Chorleiter verschlissen.
Der neue Chorleiter hieß Beyer und kam aus Potsdam. Wir vermuten, dass er der erste ausgebildete Chorfachmann war, den der Chor hatte. Seine Fähigkeiten wurden auch von den Sängern anerkannt, denn er wurde von ihnen auf der Chorversammlung von 1930 einstimmig wiedergewählt. Folgendes Zitat aus einem Versammlungsprotokoll jener Zeit hat seine Aktualität für die Sänger der „Einigkeit“ bis heute nicht verloren: Der Vorsitzende „ermahnt alle Sängerinnen und Sänger, fleißig die Übungsstunden zu besuchen, dem Dirigenten zu folgen und sich nicht an den Texten der Lieder zu stoßen, sondern nur die Kunst des Sanges in den Liedern zu suchen“.
Das gesamte Vereins- und Chorleben spielte sich zu Beginn der dreißiger Jahre vor dem Hintergrund einer schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage ab. Die Geldsorgen des Vereins nahmen zu. Die Arbeitslosigkeit tat ein Übriges, den Mitgliederstand zu senken. Die ohnehin angespannte finanzielle Situation des Vereins wurde 1931 durch einen Vorfall besonders prekär. Der Vereinskassierer befand sich als Arbeitsloser in einer Notsituation und unterschlug eine Summe von etwa 250,- Rentenmark aus der Vereinskasse. Das war dringend benötigtes Geld, welches der Verein nie wieder gesehen hat.
Vor diesem Szenario bereitete sich der Verein 1932 unter dem Vorsitz von Max Mahlow auf sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum vor.
In unseren Unterlagen wird dieses Jubiläum als gelungen bezeichnet, auch wenn es ein Defizit von 85,- Rentenmark erbrachte. Das finanzielle Fiasko führte schließlich dazu, dass der Dirigent nicht mehr bezahlt werden konnte. Man traf sich nur noch vierzehntägig und sang ohne Chorleiter.
Den Todesstoß indessen versetzten dem Verein 1933 die Nationalsozialisten, indem sie alle den Sozialdemokraten nahe stehenden Vereine verboten. Als das Verbot für den „Volkschor Einigkeit“ ausgesprochen wurde, bestand der Verein noch aus vierzehn aktiven Frauen und sechzehn aktiven Männern. Die Sangesbrüder handelten umsichtig. Die wertvolle Vereinsfahne und vermutlich auch das Gründungsprotokoll wurden verborgen, um sie vor einem möglichen Zugriff durch die Nazis zu sichern. Leider sind Fahne und Protokoll damals so gut versteckt worden, dass sie bis heute nicht wiedergefunden werden konnten.
Zum zweiten Male in seiner Geschichte stand nun der Verein vor dem Nichts, ließen Terror und Krieg das Lied verstummen, mussten Sangesbrüder ihr Leben sinnlos opfern. Und doch war das Chorsingen in Caputh selbst durch diesen Aderlass nicht auszurotten. Zwar nahm die „Liedertafel“ nach dem Kriege ihre Tätigkeit nicht wieder auf, aber bereits 1946 scharten sich Männer um Max Mahlow und versuchten, der „Einigkeit“ neues Leben einzuhauchen. Hatte ein Neubeginn unter den veränderten Bedingungen nach Kriegsende überhaupt eine Chance? Mit dem verlorenen Krieg und dem Untergang des Nationalsozialismus war eine gesellschaftliche Umwälzung verbunden. 1946 wurde die SPD mit der KPD zur SED zwangsvereinigt. Die Einheitspartei als die führende Staatspartei traf alle Entscheidungen allein und griff bestimmend in alle Bereiche des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens ein. Musste es in einem solchen Klima nicht zwangsläufig zu Konflikten zwischen der Partei und einem Gesangverein kommen, der bisher seine Entscheidungen immer selbständig und auf demokratischer Grundlage getroffen hatte? Die strenge Fixierung auf die Werteskala der Sozialdemokratie, wie sie in den Jahren nach der Vereinsgründung vorhanden war, lockerte sich jetzt mehr und mehr und wich einem Misstrauen gegenüber jedweden ideologischen Einmischungsversuchen seitens politischer Organe.
Doch der Neuanfang nach dem verheerenden Krieg war zunächst durchaus hoffnungsvoll, wenn auch die gemischte Chorformation nicht wieder aufgenommen wurde. 1947 konnte der Musiklehrer Paul Welsch als Chorleiter gewonnen werden. Damit hatte der Chor einen guten Musikfachmann an seiner Seite. Paul Welsch hatte vor dem Kriege in Caputh eine private Musikschule aufgebaut und unterrichtete Kinder aus Caputh und der Umgebung im Instrumentalspiel. Nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft setzte er diese Arbeit fort. Jetzt konnte man daran gehen, auch größere Vorhaben in Angriff zu nehmen. Deutschland war zwar in Ost und West gespalten, aber eine Wiedervereinigung war in den fünfziger Jahren offiziell noch nicht ausgeschlossen. Dieses zarte Pflänzchen der deutschen Einheit versuchten die Männer der „Einigkeit“ zu hegen und zu pflegen, indem sie Kontakte zu einem westdeutschen Chorverein herstellen wollten. Dieser Aufgabe widmete sich besonders der Caputher Sangesbruder Hermann Saudhof. Seine guten Verbindungen zu einem Braunschweiger Männerchor und zum Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl waren sehr hilfreich und setzten alle Hebel in Bewegung. Die Kanzlei des Ministerpräsidenten hatte allen zuständigen Staatsorganen grünes Licht gegeben.
So gelang es schließlich Pfingsten 1954, den Männergesangverein „Concordia“ aus Braunschweig zu einem Sängertreffen nach Caputh zu holen. Die aus diesem Anlass durchgeführten Konzerte und Veranstaltungen waren sehr erfolgreich und gaben unserem Männerchor großen Auftrieb. Die Chorstärke wuchs im Folgejahr von 25 auf 34 Aktive. Eine Entwicklung, die zu großer Freude Anlass gab. Allerdings wurde aus dem von beiden Chören geplanten Gegentreffen in Braunschweig nichts, weil staatliche Stellen diesmal keine unterstützenden Mittel bewilligten und wohl auch, weil die Gegensätze zwischen Ost und West sich zu verschärfen begannen.
Um zu verdeutlichen, mit welchen Problemen sich ein Chorvorstand in der noch jungen DDR konfrontiert sah, wenn er ein Chortreffen veranstalten wollte, sei hier ein Schriftwechsel in Auszügen mitgeteilt. Männerchor „Einigkeit“ an Rat des Kreises, Abteilung Handel und Versorgung:
„Betrifft: Einladung des Chores „Berliner Sängerknaben“ nach Caputh am 17. März 1956.
Von der Abteilung Kultur und vom Volkskunstkabinett beim Rat des Kreises Potsdam (Land) wurde die Einladung des Chores „Berliner Sängerknaben“ aus West-Berlin befürwortet. Eine Namensliste der Teilnehmer zur Ausfertigung eines Global-Passierscheines liegt bereits vor. Am Tage der Veranstaltung soll eine gemeinsame Kaffeetafel stattfinden und als Abschluss ein kleiner Imbiss gereicht werden. Der Vorstand des Männerchores Caputh bittet deshalb hiermit die Abteilung Handel und Versorgung, zur Herrichtung der Speisen für 100 Personen entsprechende Lebensmittelmarken zur Verfügung zu stellen (pro Person 2 Stück Kuchen, sowie 1 Bockwurst). Die Kosten werden vom Veranstalter übernommen.“
Antwort der Abteilung Handel und Versorgung an den Männerchor „Einigkeit“ Caputh:
„Bezugnehmend auf Ihr Schreiben teilen wir Ihnen mit, dass wir Ihnen ein Kontingent für Bockwurst nur auf HO-Basis zuweisen können. Wir bitten Sie uns mitzuteilen, ob sie noch daran interessiert sind, um sich dann von uns die Genehmigung über Bockwurst abholen zu können.“
Was der Chorvorstand in dieser Situation getan hat, wissen wir nicht, da die Vereinsunterlagen darüber keine Auskunft geben. Wir können aber mit Sicherheit davon ausgehen, dass eventuell ein anderer, vielleicht nicht ganz legaler Weg gefunden wurde, um die „Berliner Sängerknaben“ im Anschluss an das Konzert mit Bockwurst zu versorgen. Sangesbrüder in der DDR waren stets findig und mussten es wohl auch sein.
Wie auf politischer Ebene von staatlicher Stelle versucht wurde, zum Beispiel auf die Liedgestaltung Einfluss zu nehmen, zeigt ein Schreiben vom Rat des Kreises Potsdam-Land an alle Chorleiter des Landkreises Potsdam:
„Werte Kollegen!
Wir möchten Ihre Aufmerksamkeit auf drei bedeutungsvolle Tage richten: 1. und 8. Mai sowie 3o. Juni 1957 (10. Jahrestag der Gesellschaft für Deutsch – Sowjetische – Freundschaft). In der augenblicklichen politischen Lage, wo im Westen Deutschlands die Vorbereitungen für die Bundestagswahl getroffen werden und darüber hinaus eine nach amerikanischem Muster ausgerüstete Bundeswehr aufgestellt wird, ist es unsere Pflicht, mit unseren Mitteln – nämlich mit dem Lied – die Verbundenheit zur Arbeiter- und Bauernmacht zu bekunden. Wir empfehlen deshalb, an diesen drei Tagen und auch bei anderen Veranstaltungen verstärkt Arbeiter- und Kampflieder mit in die Programme aufzunehmen wie z. B.:
Brüder, zur Sonne, zur FreiheitThälmannliedBrüder, seht die rote FahneSpaniens HimmelMatrosen von Kronstadt…usw.“
Auch in diesem Falle tat der Vorstand das, was man in solchen Fällen immer tat: Das Schreiben wurde fein säuberlich abgeheftet und dann wurde abgewartet. Da von oben nichts weiter kam, hatte sich der Vorgang von selbst erledigt.
Der nächste Höhepunkt im Vereinsleben sollte das fünfzigjährige Vereinsjubiläum im Jahre 1957 werden. Der Termin dieses Festes musste mehrmals verschoben werden, da sich im Zuge der Vorbereitungen Terminüberschneidungen mit politischen Veranstaltungen ergeben hatten. Schließlich konnte der 29. Juni ins Auge gefasst werden. Sieben Chöre wollten der Einladung zur Mitwirkung beim Jubiläumskonzert Folge leisten. Der damalige Vereinsvorsitzende, Franz Liedemann, hatte nun das Vortragsprogramm aller Chöre an die Kreisleitung der SED und an den Rat der Stadt Potsdam, Abteilung Kultur, zur Begutachtung einzureichen. Eine Formsache – wie er meinte. Doch einige Tage vor dem Jubiläum erhielt er aus Potsdam die telefonische Nachricht, dass das eingereichte Programm in dieser Form nicht genehmigt werden könne. In einer Rücksprache verlangte die Abteilung Kultur beim Rat der Stadt Potsdam von ihm, die Chöre Göhlsdorf, Werder, Caputh, Michendorf und Babelsberg zu einer Programmänderung aufzufordern, da die von ihnen eingereichten Lieder nicht der heutigen Zeit entsprächen. Das veränderte Programm hätte er dann erneut einzureichen. Das Schreiben von Erich Bernburg an die genannten Chöre wurde von den meisten verständlicher Weise nicht beantwortet. Damit war das Jubiläum in der geplanten Form geplatzt und musste notgedrungen auf eine öffentliche Feierstunde ohne Chorkonzert reduziert werden.
Solche Reibereien zwischen Verein und übergeordneten staatlichen Dienststellen führten stets zu spürbaren Beeinträchtigungen des Chorklimas. Vereinsmitglieder, die im Chorgesang Entspannung und Freude suchten, sahen sich getäuscht und kehrten dem Verein den Rücken. Eine Verschlankung des Chores bis zu einer Mitgliedsstärke, die ein anhörbares Singen nicht mehr gewährleistete, musste der Chor mehrfach durchstehen. So auch als unser jetziger Chorleiter, Joachim Schabik, den Chor 1967 von seinem Vorgänger Wilhelm Busch übernahm. Busch, der ein guter Chorleiter und überzeugter Genosse war, hatte den Chor mit politischem Liedgut überfordert. Ob auf Weisung oder aus eigenem Antrieb sei dahingestellt. Da die Sänger den Chorproben scharenweise fernblieben und für den Chor eine Existenzkrise drohte, beschloss der Vorstand, sich von Wilhelm Busch zu trennen. Diesen Schritt nahmen die Genossen im Rat der Gemeinde dem Männerchor „Einigkeit“ lange Zeit sehr übel. Wie konnte auch ein kleines Häuflein von unbedeutenden Chorsängern einem Vertreter der großen und mächtigen Partei den Stuhl vor die Tür stellen!
Der neue Chorleiter, Joachim Schabik, war jedenfalls um seine übernommene Aufgabe nicht zu beneiden. Um an das einstige Leistungsniveau des Chores anknüpfen zu können, mussten erst einmal die abgesprungenen Chorsänger zurückgewonnen, beziehungsweise neue geworben und eingegliedert werden. Ein Vorgang, der sich über Jahre hinzog. Ein erster Test, ob die Konsolidierung gelungen sei, sollte die Teilnahme des Chores am Leistungsvergleich der Chöre auf Kreisebene werden, der 1971 in Potsdam stattfand. Hier ersang sich der Chor das Prädikat Mittelstufe – gut – . Bereits 1975 lautete das Ergebnis Mittelstufe – sehr gut – und zwei Jahre später beim Bezirksleistungsvergleich in Neuruppin ersang sich der Chor das Prädikat Oberstufe – gut – .Mit dieser erfreulichen Leistungssteigerung schnellte auch die Zahl der aktiven Sänger nach oben. 1977 gehörten einundvierzig Sänger zum aktiven Kader; eine Zahl, die über mehrere Jahre Bestand hatte
1980 kam dann noch eine weitere Facette hinzu, die für einen Chorverein in der DDR Voraussetzung für staatliches Wohlwollen war. Nach längerer vergeblicher Suche, in Caputh einen Betrieb zu finden, der mit dem Männerchor „Einigkeit“ eine Patenschaft eingehen würde, konnte mit dem Autobahn – Bau – Kombinat Potsdam, Betrieb Nord, eine Patenschaftsvereinbarung abgeschlossen werden. Mit der Installation solcher Patenschaften zwischen so genannten Volkskunstkollektiven und sozialistischen Betrieben versuchte die Partei, ihren Einfluss auf die Chorvereine zu verstärken. Hierbei stand meist mehr auf dem Vertragspapier, als dann in der Praxis umgesetzt wurde. In unserem Falle boten schon die geografischen Bedingungen keine günstigen Voraussetzungen für diese Patenschaft. Das Beste an dieser Vereinbarung war, dass der Verein sie als Alibi nutzen konnte: Seht her, wir haben einen Patenbetrieb! Aber die Suche nach einem Patenbetrieb aus Caputh ging weiter. Schließlich kam es 1985 zu einer Vereinbarung zwischen dem Männerchor „Einigkeit“ und dem Dorfklub beim Rat der Gemeinde Caputh. Der Männerchor und der Dorfklub, in dem die Arbeitsgemeinschaften des Ortes zusammengefasst waren, verstanden sich auf Anhieb. Die gute Zusammenarbeit ist vor allem dem damaligen Vorsitzenden des Männerchores „Einigkeit“, Heinz Begeschke, und dem Vorsitzenden des Dorfklubs und Mitglied des Männerchores, Gerhard Guckel, zu danken.
Nachdem sich nun der Männerchor „Einigkeit“ leistungsmäßig gefestigt hatte und die Patenschaft unter Dach und Fach war, war damit auch der Weg für kulturpolitische Ehrungen geebnet.
1980 und 1982 wurde er mit dem Titel „Hervorragendes Volkskunstkollektiv der DDR“ und 1980 mit der Medaille „Ausgezeichnetes Volkskunstkollektiv der DDR“ ausgezeichnet. Damit hatte ein Caputher Dorfchor alles erreicht, was im damaligen sozialistischen Staat an Ehrungen möglich war. Sie verschafften ihm ein gewisses Ansehen, weniger bei der örtlichen Zuhörerschaft als in den mit Chormusik befassten Fachgremien. Der Männerchor „Einigkeit“ hatte sich einen Namen gemacht, der einen guten Klang hatte. Rückschauend kann man daher mit Fug und Recht behaupten, dass die siebziger und achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts im Leben unseres Jubilars zu den bedeutungsvollsten und erfolgreichsten gezählt werden können.
Der letzte große Einschnitt in der jüngsten Vereinsgeschichte wurde durch die Wende 1989 markiert. Wieder galt es für den Verein, sich in veränderten Verhältnissen zurechtzufinden und seine Daseinsberechtigung erneut unter Beweis zu stellen. Heute lässt sich einschätzen, dass der Männerchor „Einigkeit“ in der neuen deutschen Wirklichkeit angekommen ist. Er musste zur Kenntnis nehmen, dass die finanziellen Mittel, ohne die es auch in der Kulturarbeit nicht geht, nicht ausschließlich durch Kulturarbeit herbeigeschafft werden können. So wurde der arbeitsintensive Chorfasching, den er jährlich veranstaltete, in den letzten elf Jahren eine wichtige zusätzliche Einnahmequelle für den Verein, die mit seiner eigentlichen Aufgabe, dem Gesang, nur am Rande zu tun hat. An dieser Stelle sei jedoch dankend erwähnt, dass unser Verein wie alle gemeinnützigen Caputher Vereine von der Gemeinde Caputh im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanzielle Unterstützung erhält, die wir sehr gut gebrauchen können. Der Vorstand des Vereins musste lernen, dass ein eingetragener gemeinnütziger Verein beim Finanzamt eine Steuererklärung einzureichen hat. Und der Chorleiter ist seit der Wende bei der Liedauswahl für seinen Chor nur sich selbst und den Chorsängern rechenschaftspflichtig.
Der Lebenslauf des Männerchores „Einigkeit“ wäre unvollständig, würden nicht die vielen Freundschaften erwähnt, die ihn auf seinem Lebensweg begleitet haben. Ohne die Unterstützung durch befreundete Frauen-, Männer- und gemischte Chöre wäre wohl manches Konzert des Männerchores „Einigkeit“ nicht so erfolgreich verlaufen. Für die gute Zusammenarbeit bedanken wir uns bei folgenden Chorvereinen:
Beelitzer Frauenchor, Frauenchor „Cantabella“ Geltow, Gemischter Chor Glindow, Babelsberger Männerchor, Männerchor „Concordia“ Geltow, Potsdamer Männerchor, Männerchor Stahnsdorf und Männerchor „Sangeslust“ Winterscheid (aus der Partnergemeinde Ruppichteroth).
Die Pflege all dieser Freundschaften war nur möglich, weil stets ein erfahrener Vereinsvorstand eine gute und zuverlässige Arbeit geleistet hat. In den hundert Jahren der Vereinsgeschichte hat es immer wieder Männer gegeben, die bereit waren, über das allgemeine Engagement hinaus im Vorstand mitzuwirken und sich für die Geschicke des Chores ehrenamtlich einzusetzen. Dafür soll ihnen an dieser Stelle Dank und Anerkennung ausgesprochen werden. Im Jubiläumsjahr gehören dem Vorstand an:
Reimar Riebicke (1. Vorsitzender), Helmut Schreiber (Geschäftsführer), Wolfgang Bennua (Stellvertr. Geschäftsführer), Manfred Dummer (Schriftführer) und Michael Aßmann (Kassierer).
Nach hundert Jahren Chorgesang ist es legitim, ein Resümee zu ziehen. Hundert Jahre Männerchor „Einigkeit“ berechtigen wohl zu der Frage, ob sein bisheriges Leben einen Sinn hatte, oder ob alles nur vergebliche Mühe gewesen ist. Mit Blick auf die beiden Weltkriege lässt sich feststellen, dass der Krieg der größte Feind des Chorsängers ist. Diese Erkenntnis zählt zu den bittersten Erfahrungen unseres Jubilars bei seinem Gang durch die Geschichte. Krieg bedeutet Barbarei und Rückschritt. Er zerstört nicht n u r Menschenleben und materielle Werte, sondern auch die kulturellen Errungenschaften der Menschen. Der Männerchor „Einigkeit“ hat in den hundert Jahren seiner Existenz mehreren Generationen von Caputhern Frohsinn und Entspannung gebracht, sowohl den aktiven Sängern als auch ihren Freunden aus Caputh und dem Umland.